„Ich wurde fast als lernunfähig eingestuft – heute bin ich Fotograf, Autor und Fulbright-Alumnus“
– Viktor Hübner, Fulbright Studienstipendiat 2017/18

Was bedeutet es, wenn Bildung zur Brücke zwischen zwei Welten wird – zwischen Herkunft und Zukunft, zwischen Deutschland und den USA? Fulbright-Alumnus Viktor Hübner hat diese Transformation selbst erlebt. Anfang des Jahres sprach er als Motivationsredner an der Leipziger Gutenbergschule über seinen außergewöhnlichen Bildungsweg. Offen berichtete er von frühen Rückschlägen, gesellschaftlichen Zuschreibungen und einem Selbstbild, das sich durch einen transatlantischen Perspektivwechsel wirklich verändern konnte.

Heute ist Viktor erfolgreicher Fotograf, Buchautor und Fulbright Germany-Alumnus. In seinem vielfach ausgezeichneten Werk The Americans I Met durchquert er per Anhalter 41 US-Bundesstaaten, legt 26.000 Kilometer zurück und zeichnet ein komplexes, tief menschliches Porträt der amerikanischen Gesellschaft – ein Projekt, das nicht nur seine künstlerische Handschrift, sondern auch seine persönliche Transformation widerspiegelt.
Wir haben Viktor gefragt, wie ihn der Aufenthalt in den USA geprägt hat, welche Rolle Bildung für ihn heute spielt – und was ihn antreibt, seine Geschichte mit der nächsten Generation zu teilen.
Fulbright Germany: Du hast in Leipzig sehr offen über deine Einstufung als „beinahe lernunfähig“ gesprochen. Gab es Schlüsselmomente oder Menschen, die deinen Blick auf Bildung und dein eigenes Potenzial verändert haben?
Ich glaube, viele von uns haben in ihrer Kindheit oder Jugend Schlüsselmomente erlebt, die unseren Blick auf unser eigenes Potenzial entscheidend geprägt haben – im positiven wie im negativen Sinne.
Ich habe den Schüler:innen offen geschildert, wie ich bereits in der ersten Klasse als „beinahe lernunfähig“ eingestuft wurde. Auch später auf der Hauptschule trug ich eine tiefe Scham in mir – einerseits wegen der Schulform, andererseits wegen meiner durchgehend schlechten Noten im Vergleich zu den anderen. Ich hatte enorme Konzentrationsschwierigkeiten, war sehr langsam im Begreifen und Ausführen von Aufgaben und dadurch schnell weit hinter dem Lernstoff und den meisten meiner Mitschüler:innen. Besonders schmerzhaft waren dabei Aussagen von Menschen aus meinem näheren Umfeld. Auch wenn diese nicht immer absichtlich verletzend gemeint waren, haben sie mein ohnehin angeschlagenes Selbstbild weiter beschädigt. So berichtete ich in meinem Vortrag, wie unter anderem nebenbei geäußerte Sätze meiner jüngeren Geschwister über meine schwache Bildung als Ältester mich zutiefst verletzten und sich in meinen Kindheitserinnerungen festsetzten. Dabei meinten sie es gar nicht böse – sie waren selbst noch Kinder und können sich heute nicht einmal mehr daran erinnern.

Solche Erlebnisse können – ähnlich wie wir es bei Algorithmen in den sozialen Medien beobachten – zu sich selbst verstärkenden Gedankenschleifen führen, die man immer wieder durchläuft. Und genau so ein innerer Algorithmus hatte sich auch in meinem Kopf festgesetzt: ein Kreislauf aus Selbstzweifeln, Minderwertigkeitsgefühlen und Ohnmacht.
Das erste Mal, dass dieser Kreislauf bewusst unterbrochen wurde, war in der siebten oder achten Klasse – durch eine eigentlich beiläufige Begegnung. Ein Bekannter fragte mich – wie so viele zuvor –, welche Schule ich besuche und wie meine Noten seien. Ich antwortete mit den üblichen Ausflüchten, kleinlaut und defensiv – fast schon auswendig gelernt. Aber seine Reaktion war völlig anders als erwartet: kein Mitleid, keine Herablassung. Stattdessen sagte er einfach: „Ich habe einen Freund, der war auch auf der Hauptschule. Heute studiert er Medizin und will Doktor werden.“
Dieser eine Satz, obwohl ich den Freund nie getroffen habe, veränderte alles. Plötzlich war da ein Gegenbeispiel, ein konkreter Mensch mit einem ähnlichen Hintergrund, dem der Aufstieg gelungen war. Und wenn es für ihn möglich war – warum nicht auch für mich?
Dieser Moment war für mich wie ein Lichtstrahl in einem dunklen Raum. Er hat mir Hoffnung gegeben und den Anstoß, mich Schritt für Schritt aus meinen destruktiven Gedankenschleifen zu befreien. Es war kein schneller Prozess, aber ich habe begonnen, an mich zu glauben – und bin weitergegangen.

Fulbright Germany: Was hat dich motiviert, an der Gutenbergschule zu sprechen – und wie hast du die Reaktionen der Schüler:innen erlebt?
Vor den Schüler:innen zu sprechen, war für mich ein bedeutender persönlicher Meilenstein. Nach meinem eher unterdurchschnittlichen Hauptschulabschluss war der Weg lang – heute habe ich einen Master of Fine Arts von einer der renommiertesten Kunsthochschulen der Vereinigten Staaten und mein erstes Buch in englischer Sprache wurde mehrfach ausgezeichnet. Der Kontrast zu damals ist gewaltig: In der Schulzeit stand ich in Englisch regelmäßig auf „mangelhaft“ – selbst nach dem Schulabschluss konnte ich kaum ein paar Worte flüssig sprechen, geschweige denn, dass ich mir damals jemals zugetraut hätte, überhaupt ein Buch eigenständig zu schreiben.
Dass ich heute als Autor auf internationalen Bühnen stehe, ist ein weiter Weg – und genau deshalb war es mir ein Herzensanliegen, diese Geschichte mit Schüler:innen zu teilen. Als mich die Einladung der Gutenbergschule erreichte, wurde mir bewusst, welches Vorrecht und Verantwortung ich trage, mit einem einfachen Ziel: junge Menschen zu ermutigen und ihnen zu zeigen, dass ihr Weg noch nicht festgeschrieben ist.

Die Reaktionen der Schüler:innen waren bewegend: Es wurden ehrliche, tiefgehende Fragen gestellt – zu Selbstzweifeln, Orientierungslosigkeit, Herausforderungen des Lebens, bis hin zu Suizidgedanken. In vielen Gesichtern konnte ich sehen, wie wohltuend es war, jemanden offen über Scheitern, Umwege und Hoffnung sprechen zu hören. Bei manchen war förmlich zu sehen, wie ein Licht aufging – das hat mich sehr berührt. Viele kamen im Anschluss zu mir und bedankten sich persönlich. Die Lehrer:innen bestätigten mir im Anschluss, wie wichtig positive außerschulische männliche Vorbilder für die Schüler seien und es gerade daran mangelt. Diese Erfahrung bestärkt mich, noch viel öfter in diesen Dialog zu gehen.
Fulbright Germany: Welche Rolle hat dein Fulbright-Stipendium in deinem persönlichen und beruflichen Werdegang gespielt? Oder: Wie hat der Aufenthalt in den USA deinen Blick auf Bildung, Herkunft und Selbstwirksamkeit verändert?
Das Fulbright-Stipendium war für mich – gemessen an meinem bisherigen Lebensweg – beinahe wie ein Wunder. Es hat mir gezeigt, was möglich ist, wenn man konsequent auf ein Ziel hinarbeitet. Fulbright hat mir nicht nur Türen geöffnet, um in den USA zu studieren, sondern auch meinen Blick auf Herkunft und Bildung entscheidend geschärft.
An der Rhode Island School of Design wurde ich erstmals intensiv mit den Themen Chancengleichheit, kulturelle Herkunft und Selbstwirksamkeit konfrontiert. Dabei habe ich erkannt, wie stark mein eigener Weg durch meine familiäre Herkunft geprägt war. Meine Eltern sind als Russlanddeutsche Ende der 1980er Jahre nach Westdeutschland eingewandert. Beide haben schnell Deutsch gelernt und eine Ausbildung begonnen. Als ich in die Grundschule kam, arbeiteten meine Eltern Vollzeit – und trotzdem haben sie mich über Jahre hinweg mit unzähligen Nachhilfestunden durch meine Schulzeit begleitet. Die Erfahrungen in den USA und die daraus gewonnenen Erkenntnisse haben mein Verständnis davon, was es bedeutet, aus einer Migrantenfamilie zu stammen, nachhaltig geschärft – und in mir eine besondere Empathie für Menschen geweckt, die sich in ähnlichen Lebenssituationen befinden.
Fulbright Germany: Was sind deine nächsten Projekte – insbesondere im Bereich Bildung oder gesellschaftliches Engagement?
Derzeit konzentriere ich mich auf drei Bereiche:
1. Lesungen und Vermittlungsarbeit zu meinem Buch „The Americans I Met: Das Projekt dokumentiert die gesellschaftliche Stimmung in den USA während der ersten Trump-Amtszeit. Gerade jetzt – im Kontext von Trumps zweiter Amtszeit – ist es aktueller denn je. Für die zweite Jahreshälfte 2025 plane ich zahlreiche weitere Lesungen in Deutschland.


2. Ein journalistisches Langzeitprojekt in Deutschland: Als jemand, der seit vielen Jahren im Ausland lebt, verfolge ich die politischen Entwicklungen in Deutschland mit großer Aufmerksamkeit – und auch Sorge. Ab der zweiten Jahreshälfte 2025 möchte ich eine umfassende dokumentarische Recherche starten, um Stimmen aus ganz Deutschland zu sammeln. Es geht mir darum, gesellschaftliche Dynamiken, Spannungen und Hoffnungen in verschiedenen Regionen und sozialen Schichten sichtbar zu machen.
3. Bildungsengagement: Der Vortrag an der Gutenbergschule hat mich tief bewegt. Die Reaktionen zeigen mir, wie groß der Bedarf an echten, ehrlichen Geschichten ist. Ich plane deshalb, künftig deutschlandweit an Schulen zu sprechen – am liebsten in Kombination mit Workshops zu Fotografie, Identität oder dem Publizieren eigener Bücher. Ich möchte Jugendlichen zeigen: Es ist nie zu spät, die eigene Geschichte selbst zu schreiben.
Lieber Viktor, deine Geschichte zeigt eindrucksvoll, was transatlantische Bildung leisten kann: Sie eröffnet nicht nur neue Horizonte, sondern hinterfragt auch alte Begrenzungen – und ermutigt andere, sich selbst neu zu denken.
Wir danken dir für das Gespräch und wünschen dir weiterhin viel Erfolg – auf allen Wegen, die du noch kreuzt.
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#transatlantictransformation